Mein russisches Frühjahr

Dieser Frühling lässt mein Herz schneller schlagen vor lauter Freude über die vielen russischen Bücher, die eines nach dem anderen ihren Weg in unseren schönen neuen Laden finden, verbunden mit ein wenig Wehmut bei dem Gedanken, dass sie dort gerade ein einigermassen betrübliches Dasein fristen, aber immerhin kann ich über den Blog ein paar meiner Lieblinge vorstellen.

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Von unglaublichen Entdeckungen (Gerhard Sawatzky «Wir selbst» – ein einzigartiger zeitgeschichtlicher Fund, ein grosser Gesellschaftsroman über die Russlanddeutschen, von Stalin 1938 verboten und erst jetzt wiederentdeckt oder Leonid Zypkin «Ein Sommer in Baden-Baden» – eine nicht nur sprachlich brillante Hommage des jungen Autoren an sein Idol Dostojewski) über wunderschöne bibliophile Ausgaben zum silbernen Zeitalter der russischen Literatur (Olga Forsch «Russisches Narrenschiff») bis zu tollen Neuübersetzungen (Fjodor Dostojewksi «Aufzeichnungen aus einem toten Haus») ist für jeden Geschmack etwas dabei. Ein weiteres grosses Thema sind nach wie vor die stalinistischen Säuberungen und ihre Folgen für Individuum und Gesellschaft, die in den Romanen von Isabelle Autissier «Klara vergessen», Juri Buida «Nulluhrzug» und Sasha Filipenko «Rote Kreuze» thematisiert werden.

Letzterer schafft es in seinem nur gut 270 Seiten umfassenden Roman dank raffinierter Konstruktion, die Willkür des Systems an einem Einzelschicksal aufzuzeigen. Die 90-jährige Tatjana Alexejewna erzählt gegen das Vergessen ihre unglaubliche Geschichte, die von so schrecklichen Ereignissen geprägt ist, «dass mich die Alzheimer-Krankheit nur deswegen heimgesucht hat, weil Gott Angst hat vor einer Begegnung mit mir». Doch gewisse Dinge kann man nicht vergessen. Als ihr Mann im zweiten Weltkrieg in rumänische Kriegsgefangenschaft gerät, ersetzt sie, die als Sekretärin beim Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten arbeitet, aus Angst vor der Sippenhaft der als Deserteure abgestempelten Kriegsgefangenen, den Namen ihres Mannes auf den Listen der Kriegsgefangenen, die vom Roten Kreuz in Genf übermittelt werden, durch einen anderen Namen. Es nützt ihr nicht viel, sie wird dennoch festgenommen, die Tochter in ein Erziehungsheim gesteckt und sie landet wie so viele im Gulag. Zu allem Leid quält sie zeitlebens die Schuld, möglicherweise durch das Vertauschen der Namen eine andere Familie zerstört zu haben. Die überraschende Wendung folgt, als sie diese nach jahrelangen Recherchen und Korrespondenz mit dem Roten Kreuz endlich ausfindig machen kann. Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmt und Filipenko führt uns einmal mehr vor Augen, dass es in einem totalitären System einfach keine Gewissheiten gibt.

 

Anna-Lena Fässler

 

 

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