Ein Fall von vielen

Meinfall

Ein Buch, das unbedingt geschrieben werden musste und das in seiner existenziellen Dringlichkeit genauso gelesen werden sollte, ist das kürzlich im S. Fischer Verlag erschienene „Mein Fall“ von Josef Haslinger. Seine Zeit als Sängerknabe im katholischen Konvikt Zwettl in den 60er-Jahren bringt er im Selbstverständnis des betroffenen, sexuell missbrauchten und durch Gewalt misshandelten Kindes zu Papier. Aus diesem Blickwinkel hinterlässt es eine Verstörung, die alle treffen muss, die ebenfalls in dieser Zeit geboren und in das zerfallende katholische Milieu hinein gewachsen sind. Haslinger schildert weder voyeuristisch noch reisserisch die Betroffenheit des sprach- und schutzlosen Kindes, das noch heute aus dem erwachsenen, gebildeten und rational argumentierenden Professor spricht. Er findet Worte für die Ohnmacht und das Ausgeliefertsein in einem patriarchalen, hierarchisch funktionierenden Gesellschaftssystem, das in jener Zeit in seiner Normalität und seinen subtilen Mechanismen der Gewalt- und Machtspiele bei weitem nicht nur die Kirche geprägt hat.

In einem schmalen Band von gerade mal 139 Seiten sind seine Erinnerungen eine eindringliche Mahnung an die Menschlichkeit all jener, die gerne vergessen wollen, aber genauso an diejenigen, die aus diesen unsäglichen Verhältnissen Kapital und Publizität schlagen wollen. Es geht um Menschlichkeit – damals wie heute – und den achtsamen, menschenwürdigen Umgang miteinander. Diese einfache wie eindringliche Aufforderung aus der Feder eines Betroffenen zu lesen, bleibt aufwühlend und verstörend und ist nicht zuletzt auch eine mahnende Anklage an alle, die heute mit der Aufarbeitung dieser Zeit betraut sind.

 

Brigitta Schmid, Bücherladenfreundin

Josef Haslinger, Mein Fall. S. Fischer Verlag 2020

 

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